Christoph Kivelitz

Thorsten Wagner

formart in Kooperation mit der Galerie Robert Drees, Hannover, 14.1. - 31.3. 2010. formart Meisterschülerpreis 2009. Katalogaufsatz

Dux Kino 68, 2009, Fotografie

DINGE, DIE SO HÄTTEN STATTFINDEN KÖNNEN …

Der Alltag der postmodernen Medienwelt ist geprägt und getragen durch Personen, die als Stars betrachtet werden. Von übergroßen Plakaten lächeln sie in den Straßenraum hinunter, Boulevard-Magazine und -Zeitungen finden durch sie Glanz und Glamour. Allabendliche Castingshows lassen uns lustvoll an ihrem Werden und Vergehen Anteil nehmen. Um unsere Neugier zu befriedigen, werden uns durch Paparazzi zu Sensationen aufgeputschte Nachrichten über die Arbeit, das Privat- und auch das Innenleben der Stars zugeführt. Die öffentliche Aufmerksamkeit entscheidet gnadenlos über Aufstieg und Erfolge dieser Ausnahmegestalten eines immer gleichförmiger werdenden Alltags. Das Starphänomen wird zum Wertmaßstab und zur Sinnstiftung einer das Individuelle und Besondere zunehmend auslöschenden Gesellschaft. Das Idealbild des Stars versteht sich als Abglanz von Schönheit und einer in sich selbst vollendeten Persönlichkeit, um damit aber auch alle Nuancen, Facetten und Widersprüche, die dem menschlichen Wesen zu Eigen sind, zu überstrahlen.

Im weitesten Sinne lassen sich die Videos von Thorsten Wagner der Bildgattung des Porträts zuordnen. Dem Künstler geht es darum, das Wesen einer Person gerade auch in ihren Gegensätzen und Brüchen zum Ausdruck zu bringen. Menschen, die ihn besonders faszinieren, deren soziale, kulturelle und individuelle Lebensumstände ihn anziehen, sind ihm Ansatzpunkt für ein Szenarium, das sich in nicht mehr zu differenzierender Weise zwischen Fact und Fiction bewegt. Recherchen über die tatsächlichen Lebenswirklichkeiten dieser Menschen verbinden sich mit hypothetischen Elementen. Vorgefundenes und Erdachtes werden so miteinander verschränkt, dass hieraus ein komplexes Möglichkeitsbild erwächst. In feinen Abstufungen entsteht eine Sozialstudie, die zwar von der Begegnung mit einem Individuum ausgeht, die sich nicht aber explizit und exklusiv auf dieses zurück bezieht, vielmehr Elemente aus dessen Leben mit anderen Milieus verschmilzt und eine über seinen Horizont herauswachsende Allgemeingültigkeit gewinnt. Aus den verschiedenen Versatzstücken von Realität entwickelt Thorsten Wagner eine pars-pro-toto-Figur, die übergreifende gesellschaftliche und kulturelle Zusammenhänge erhellt. Als filmisches Set wählt Thorsten Wagner einen Ort aus, den er als Regisseur behutsam verändert und gestaltet, um seinen jeweiligen Charakteren einen Rahmen zu stiften, ihre Gedanken und Gefühle, Visionen und Besonderheiten auch im jeweiligen Umfeld sichtbar und spürbar werden zu lassen. Das Persönlichkeitsbild erweitert sich um Vergangenheits- und Zukunftsaspekte.

So lässt der Künstler den Betrachter bei seinem Video "Crazy" in den Kosmos eines Entertainers und eines Barpianisten eintauchen. Interviewsequenzen wechseln sich mit solchen aus den Auftritten der beiden Unterhaltungskünstler ab. Als Found Footage eingeblendeter Applaus vermittelt die Atmosphäre einer Live-Übertragung, die sich aufgrund der Mode und Frisuren der Zuschauer in den Kontext der 70-er Jahre zurückversetzen lässt. Damit eröffnet sich eine weitere, von der des Rezipienten abgehobene Zeitebene, die sich allerdings mit dem Retro-Outfit des Sir Archibald und auch des Bar-Ambientes sinnvoll verbinden lässt. Dabei ist sich der Protagonist seines widersprüchlichen Rollenbildes durchaus bewusst. Einerseits erfüllt er das Klischee des Künstlers als Außenseiter und Individualist, andererseits betrachtet er seine Auftritte nur als Job, der Sicherung seines Lebensunterhalts und der kurzweiligen Zerstreuung des Publikums dienen soll:: "Ich mag zwar nicht das Niveau eines Entertainers aus Las Vegas erreichen, aber das macht nichts, und das empfindet mein Publikum auch so, die wollen unterhalten werden, und das bekommen sie." Der hierin sich artikulierenden Selbstbescheidung entspricht die eigentümlich melancholisch gefärbte Grundstimmung der Pianobar. Idealbild als Künstler und Realität als verschrobener Sonderling lassen sich schwerlich miteinander versöhnen. Thorsten Wagner macht sich bei der Analyse dieses Sachverhalts zwar Verfahren des dokumentarischen Films zu Eigen, doch nicht im Sinne einer Bloßstellung. Nicht der porträtierte Mensch wird in seiner Fragwürdigkeit entlarvt, vielmehr wird die Kategorie des Stars grundsätzlich in Frage gestellt.

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link Website von Thorsten Wagner

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