Christoph Kivelitz

Sedimente - Madeleine Dietz, Homa Emami, Valeria Sass

Text im Katalog zur Ausstellung im Stadtmuseum Siegburg, Hrsg. Stadtmuseum Siegburg, Verlag Plöger GmbH, Annweiler 2000.

I. Theoretische Vorbemerkung

Der Begriff des Sedimentes, der Sedimentation oder auch des Sedimentierens verweist zunächst in einen geologischen Zusammenhang:

Nach der Ablagerung unterliegen die Sedimente einem Prozess, der Diagenese genannt wird. Man versteht darunter all die physikalischen, chemischen und biologischen Vorgänge, die aus einem Lockersediment ein Sedimentgestein machen.

Es ist folglich zu berücksichtigen, dass zur Bildung von Sedimentgesteinen unterschiedliche Prozesse beitragen, mithin zu ihrer Beschreibung durch Grenzüberschreitung auch Kriterien der Nachbardisziplinen hinzugezogen werden müssen. Bei der Sedimentation handelt es sich um ein komplexes Ereignis, das sowohl im Hinblick auf die Ursachen, die Abläufe wie auch die Wirkungen aus unterschiedlichen Perspektiven in Betracht zu ziehen ist. Über die Bildung von Gesteins-, damit von statischen Formationen hinausgreifend, betrifft der Vorgang der Sedimentation die Schaffung von Energiepotentialen: Die fossilen Brennstoffe Öl und Gas verdanken ihre Entstehung der Umwandlung der in den Sedimentgesteinen vorhandenen organischen Substanz. Ein Großteil der Weltvorräte an Eisen, Kalisalz, Baustoffen und einer Vielzahl anderer wichtiger Rohstoffe stammt aus Sedimentgesteinen. Das "Sediment" verkörpert das vorläufige Endprodukt des als Sedimentation bezeichneten Vorgangs. Es ist in seiner je gegebenen Erscheinung unlösbar verknüpft mit dem Prozess einer ungerichteten Transformation. In seiner sich im Raum behauptenden Gegenständlichkeit bleibt es damit an einen zeitlichen Vollzug gebunden. Die Substanz eines Sediments entfaltet sich im Spannungsfeld des Gewesenen und des Werdenden. So geben Sedimentgesteine in Gestalt von Fossilien Aufschluss über die erdgeschichtliche Entwicklung. Als Dokumente werden sie einer paläontologischen oder auch archäologischen Praxis zugeführt:

Sedimentation: Ablagerung von Boden- oder Felspartikeln, die sich allerdings nicht mehr an der Stelle ihrer geologischen Entstehung befinden, sondern durch Einwirkung fremder Kräfte vom Platz ihres ursprünglichen Vorkommens abgetragen, abtransportiert und am Ort der Sedimentbildung abgelagert wurden. Verantwortlich für Sedimentation können Naturkräfte (Wind und Wasser, Verwitterung und Erosion) sein, doch auch der Mensch kann an Sedimentationsprozessen mitwirken und (z.B.) Ablagerungen archäologischen Materials hinterlassen.

In Sedimenten verdichtet sich immer nur ein einstweiliger Stillstand der Entwicklung. Wirkkräfte - etwa die der Elemente - sind in ihnen aufgehoben, gleichsam in ihrer Textur niedergeschrieben, so dass sie sich eben als Kräfte nachzeichnen lassen. Doch die geronnene Form erscheint nicht als von ihnen durchwirkt, als Oberflächenphänomen einer sich unmittelbar in ihr vollziehenden Bewegung, sondern gewissermaßen als Erstarrung, als eine dem Fluss der Zeit entrissene Gestalt, die erst entrückt aus dem fortschreitenden Wirkungszusammenhang als Erscheinung fass- und begreifbar wird. Indem das Sediment sich in sich selbst verschließt und durch weitere Überlagerungen dem Einfluß der Elemente entzogen wird, gerinnt es zur klar abgegrenzten und beschreibbaren Form. Das Endprodukt der Sedimentation zieht sich zusammen zur Schicht, die allerdings eingebunden in eine Schichtung der Wahrnehmung wiederum entzogen und erst auf einer anderen Ebene dem zeitlichen Verlauf von neuem unterworfen wird. Entwicklung in der Zeit wird nun nicht mehr als horizontale Bewegung, gleichsam als "Zeitstrahl" vorgestellt, vielmehr als ein auf die Vertikale bezogener müssen. axialer Schnitt. Der Pol der "axis mundi", der alle Schichten durchzieht, um sie vertikal miteinander zu verbinden, ist ein klassisches Sinnbild, Zeit und Ewigkeit im Verfahren der Geometrie aufeinander zu beziehen, denn hier werden die Erfahrung des Augenblicks und der in Zukunft und Vergangenheit ausgreifende Zeitfluss spannungsvoll aufeinander bezogen. Die dynamischen Formbildungen der Sedimentation verweisen korrelativ auf die Methode der Stratigraphie, auf die Erkundung der Sedimentationsschichten, somit auf die sich in einem statischen Wechselverhältnis gegeneinander abzeichnenden Bodensätze der Sedimentation:

Stratigraphie: (modernes Kunstwort aus lat.: stratum ["Lager", hier: "Bodenschicht"] und griech.: graphé ["Zeichnung"], bzw. graphô ["ich schreibe"]: "Schicht[enbe]schreibung", Kunde von den [geologischen wie archäologischen] Schichtungsverhältnissen. Sie beruht auf der Beobachtung, daß sich immer wieder jüngere Ablagerungsschichten über ältere legen, so dass im Regelfall die oberste Schicht eines Schichtgefüges (Schichtprofils) zugleich die jüngste, die unterste dagegen zugleich die älteste ist, wenn nicht Störungen und Unklarheiten dadurch verursacht werden, dass jüngere Ausschachtungen bzw. Eintiefungen irgendwelcher Art (Schächte, Gruben, Gräber, Brunnen, Fundamentgräben, Pfostenlöcher usw.) die älteren (tieferen) Schichten durchdringen.

Ablagerungsschichten werden nicht allein im Hinblick auf die geografische Struktur einer Region einer Deutung unterzogen. Reste von Besiedlungsphasen in sich bergend, stehen sie gleichzeitig als Spuren für die je besondere Ausformung menschlichen Lebens. In den Grundrissen der Wohn-, Arbeits- und Kultstätten ist der Kulturstand des jeweiligen Zeitabschnitts eingezeichnet. Im Sediment offenbart sich folglich nicht allein ein den Naturgesetzen unterliegender Gestaltungsprozess, sondern darüber hinaus ein Verständnis von der Stellung des Einzelnen im Hinblick auf das soziale Gefüge, von seinem Eingehen oder seiner Unterordnung im Rahmen einer gesellschaftlich und religiös bestimmten Organisation. So zeigt sich gerade in der Analyse der Ablagerungsschichten die Nähe, gleichzeitig aber auch die Differenz von Natur und Kultur: Kultur ist ein vom Menschen geschaffener Zuwachs zur Natur, der zu dieser aber nicht etwa in Gegensatz steht, sondern über sie hinausgreift, sie menschlichen Zwecken mehr und mehr unterwirft und dienstbar macht. 5 Die Vieldimensionalität der sich im Begriff des Sediments verdichtenden Vorstellungsbilder bzw. der sich in ihm weitenden Bedeutungsfelder - aus den Bereichen von Geologie, Biologie, Astronomie, Medizin, Psychologie, Geschichte, Kultur und Religion – erfordert ein Verfahren der Annäherung, das sich in Umschreibungen vollzieht. In Assoziationen knüpft sich ein semantisches Netz, das als Bezugsrahmen zur Interpretation der Werke von Valeria Sass, Madeleine Dietz und Homa Emami dienen mag.

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Bilder aus der Ausstellung

Website Madeleine Dietz

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