Christoph Kivelitz

Kemnade International – Ein Festival im Wandel der Zeit

Dr. Christoph Kivelitz, 2010. Ein Aufsatz im Auftrag des Kulturbüros der Stadt Bochum.

Kemnade International verstand sich zum Zeitpunkt seiner Gründung als "Modellversuch", als Experiment im Zeichen der Demokratisierungsbewegung "Kultur für alle". Der Impuls zur Gründung des Festivals ging zum einen vom Sozialamt der Stadt Bochum aus, das sich um die soziale Integration aller ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger bemühte, daneben vom Museum Bochum, das unter der Leitung von Dr. Peter Spielmann und Michael Fehr einen erweiterten Kulturbegriff vertrat. Im Jahr der Gründung 1974 stellte sich die Situation so da, dass aufgrund der wirtschaftlichen Krise ein Anwerbestopp für ausländische Arbeitnehmer verfügt worden war. Als Folge dessen wurden Diskussionen über den Nachzug der Familien heftig ausgetragen. Der Begriff des "Gastarbeiters", der ja auf einen nur temporären Aufenthalt der zugezogenen Arbeitskräfte zielte und diese als eine rein funktionale "Arbeitsmaschine" verstand, wurde in Frage gestellt. Hier artikulierte sich die Forderung nach Integration in eine sich öffnende Gesellschaft. Diese Überzeugung kommt auch deutlich auf dem Plakat der ersten Festivaledition von 1974 zum Ausdruck. Das Festival stand in seinem Gründungsjahr unter dem Motto: "Wir sind Menschen, Sie auch?"

Die Organisationsstruktur von Kemnade International war von Anfang an kollektiv. Unter dem Aspekt einer alternativen, soziokulturell gefassten Kulturarbeit ging es darum, von der bloß veranstalteten, verordneten Kultur wegzukommen. Zielgruppe waren die sogenannten "Gastarbeiter", die hier ein Forum finden sollten, sich in ihrer kulturellen Identität darzustellen. So wurde im offiziellen Ko9nzept festgestellt, dass "ein solches Fest nur sinnvoll sein und authentische Informationen über die ausländischen Arbeitnehmer und ihre soziale Lage in der Bundesrepublik geben" könne, "wenn sich die Veranstalter darauf beschränken, den organisatorischen Rahmen bereitzustellen, die inhaltliche Vorbereitung und Gestaltung der einzelnen Programmpunkte" sollte aber den "Ausländern selbst überlassen" bleiben. Hierüber galt es, die Schranke zwischen Machern und Besuchern aufzuheben. Es sollte jeder die Möglichkeit zur aktiven Teilhabe finden. Dementsprechend offen und dynamisch lief das Festival ab. Anmeldungen wurden auch kurzfristig noch angenommen. Programmänderungen und -verschiebungen gehörten zur Tagesordnung. Doch gerade über diese organisatorischen Schwierigkeiten und die Flexibilität im Umgang mit diesen funktionierte das Festival als Forum der Begegnung der verschiedenen Ausländergruppen mit Deutschen.

Damit war Kemnade International ein praktisches Stück wirklicher Völkerverständigung und integrativer Ausländerarbeit. Über Kultur und Gastronomie sollte eine gemeinsame Sprache gefunden werden. Die Vielzahl der mit-organisierenden Gruppen stellte sich in Informationsständen und Diskussionsforen dar, um Probleme der Ausländer in der Bundesrepublik in die Öffentlichkeit zu bringen. Expertengespräche zu Fragen von Ausländerpolitik und Ausländerrecht waren Versuche, auch politisch verstärkt Einfluss zu nehmen.

Ende 1979 war Kemnade International mit wachsenden Publikumszahlen fast schon an seine Grenzen gestoßen. Trotz dieser öffentlichen Resonanz gab es immer wieder Kritik von verschiedenen Seiten. So löste die Beteiligung kurdischer Gruppen Bedenken bei der Staatskanzlei im Hinblick auf die deutsch-türkischen Beziehungen aus. Von kommunaler Seite bestand Irritation über die politische Orientierung des Festivals.

Die heftig ausgetragenen Diskussionen über den Fortbestand des Festivals führten schließlich dazu, dass der Kulturausschuss der Stadt Bochum eine neue Konzeption für Kemnade International entwickelte. Die Veranstaltung sollte fortan nur noch im Rhythmus von zwei Jahren durchgeführt werden. Außerdem sollte das Programm weniger auf traditionelle Kulturformen ausgerichtet sein und stärker die Vielschichtigkeit unterschiedlicher Kulturformen und -stile zur Darstellung bringen. Kemnade International sollte nicht den Anschein einer heilen Folklore-Welt vermitteln, sondern – im Gegenteil – die kulturellen Widersprüche herausarbeiten und zur Diskussion bringen. Schwerpunkt des Programms wurde die Verschmelzung traditioneller und moderner Kunstformen und die Synthese der verschiedenen kulturellen Einflüsse. Die ursprüngliche Offenheit in der Organisationsarbeit wurde zurückgenommen. Die beteiligten Vereine und Gruppierungen sollten zwar weiterhin selbst Vorschläge einbringen, das Programm wurde aber letztendlich durch eine Kommission festgelegt. Indem die Vielfalt der z. T . auch widersprüchlichen Impulse aufgenommen und bewusst gestaltet wurde, skizzierte das Festival als Experiment und Vision das Projekt einer multikulturellen und in sich heterogenen Gesellschaft. Zwar wurden die Expertengespräche fortgesetzt, doch durch die Vielzahl der Musikdarbietungen und Kunstausstellungen verschob sich der Schwerpunkt auf die auch unterhaltsame Darstellung des kulturellen Alltags der in Deutschland lebenden Ausländergruppen.

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